Das Race Around Austria im Selbstversuch

Michael / Cycloklops hat bei der Race Around Austria Challenge Unsupported teilgenommen. Das ist sein Bericht.

„Hallo! Das ist Startnummer U-22, ich gebe mein Rennen auf.“

So geht das RAA 2020, mein RAA 2020 zu Ende. Aber es beginnt Monate davor, mit der Idee, gemeinsam mit einem guten Freund die Race Around Austria Challenge zu fahren. Das Race Around Austria ist eines der bekanntesten Langstreckenradrennen der Welt und weil es nicht viele gibt, die verrückt genug sind, 2200 Kilometer rund um Österreich zu fahren, gibt es die Challenge. Weil das Rennen in St. Georgen im Attergau, also im Herzen von Oberösterreich, startet, fährt man bei der Challenge „nur“ einmal rund um Oberösterreich, 560 Kilometer, ca. 7000 Höhenmeter, im Idealfall nonstop.

Wer von uns zwei die Idee hatte, diese Unternehmung zu starten, da gehen die Meinungen auseinander, auch über andere Dinge ist das der Fall und wir entscheiden recht bald, dass wir uns freundschaftlich bei diesem Projekt trennen. Da sind bereits Leistungstests (danke Stefan von Wesports!) absolviert und erste Trainingspläne erstellt (danke an Andi von geradeaus.at für die vielen Tipps!) und weil ich „schon so weit bin“, beschließe ich, die erstmals stattfindende Challenge Unsupported zu fahren, also allein um Oberösterreich, ohne Begleitfahrzeug. Vom Gefühl her kommt mir das sehr entgegen, es ist Radfahren, wie ich es schätze, ohne viel Organisation und ohne viel Tamtam. Aber natürlich auch ohne Backup, falls etwas schief läuft, Unsupported-Wettbewerbe gehen durchaus auch als Abenteuer durch. Yes.

Die Leistungsdiagnose ergibt, dass die Beine gar nicht mal schwach sind, aber dass das Gesamtgewicht des Fahrers ein Problem darstellt, im Trainingsfokus liegen lange, langsame Ausfahrten im Grundlagenausdauerbereich. Im Jänner starte ich das „Training“ für das Rennen, das im August stattfinden wird. Das ist für mich ein ungewöhnlich langer Zeitraum der Vorbereitung, ich bin normalerweise eher der Spontane.

Ich schaue in dieser Zeit viele Videos, lese Bücher, höre Podcasts und rede mit Leuten, die dieses Unterfangen schon mal geschafft haben, danke unter anderem Norbert für Inspiration und angenehme Stunden. Ich lerne, dass dieses Weitradelfahren zu einem großen Teil auch Kopfsache ist, dass man in einen Tunnel kommen muss, den Kopf abstellen muss, um Schmerzen und sonstige unangenehmen Dinge auszublenden. Jonas Deichmann, der zum Zeitpunkt des RAA gerade einen Triathlon rund um Deutschland absolviert, als Vorbereitung für einen Triathlon rund um die Welt (ja…) redet davon, dass man im Kopf gar nicht die Idee haben darf, dass man scheitert. Im Endeffekt gehts nicht um Geschwindigkeit, sondern um Zachheit und ich versuche, mir das zu erarbeiten. Stundenlange Ausfahrten am kerzengeraden Hubertusdamm mit 130er-Puls im Nebel bei 5° lassen mich phasenweise an meinem Verstand und an der Unternehmung zweifeln, aber das Hotel ist gebucht und der Startplatz bezahlt. Ab und an macht es mir sogar Spaß, dieses Training, dieses sture „Heute steht das am Plan, also macht mans“. Empfehlen im engsten Wortsinn kann ich es als Freizeitbeschäftigung nicht, aber es ist notwendig. Wie sehr notwendig es ist, das werde ich erst Monate später erfahren.

Spulen wir ein paar Monate vor. Corona hat die Vorbereitung natürlich nicht leichter gemacht. Als Training waren mehrere Rennen geplant, die jetzt alle abgesagt oder auf nach dem RAA verschoben wurden, mit Starbike hatten wir zunächst wirtschaftlich ums blanke Überleben zu kämpfen und dann die ärgste Saison ever. Was vor allem im Kopf, aber auch körperlich Spuren hinterlassen hat.

Radeln war zeitweise auch so ein Ding, dürfen wir, dürfen wir nicht, ich bin sogar über meinen Schatten gesprungen und habe mit Zwift angefangen, aber ich sag euch, Grundlagenausfahrten am Indoortrainer, das ist was für stärkere Menschen.

Ich bin im Jahr 2020 noch nie so viel gefahren, wie zuvor, auch eine Verkühlung (ja, Verkühlung) zwei Wochen vor Start nimmt mir nicht die Zuversicht, gut vorbereitet zu sein auf das, was kommen wird. Ich habe am Equipment getüfftelt, gelernt, mit Auflieger zu fahren (super bei Gegenwind, super bei geraden Abfahrten, super, wenn man etwas müde wird), mit Gepäck zu fahren, mein Orbea Avant funktioniert hervorragend. Ich fahre zuversichtlich nach St. Georgen. Mit Umweg über Eisenstadt.

„Der Angeklagte ist nicht erschienen, Sie können gehen.“

Uns, also Starbike, wurde nämlich vor bald einem Jahr ein Fahrrad gestohlen. Passiert. Und der Dieb wurde gefasst, ich soll am Tag vor dem Start zum RAA als Zeuge zur Gerichtsverhandlung erscheinen, um 8.30 Uhr in Eisenstadt. Wenn ich das nicht tue, droht eine Strafe. Well, das mit der Strafe vor dem Angeklagten nicht gesagt oder ist ihm scheinbar egal, ich verliere ein paar Stunden und Nerven, aber bei der Autobahnabfahrt beim Attersee ist der Grant verflogen. Als ich das Auto nochmal volltanke (der Starbike-Bus wird schließlich von Nora Turner aka Unicorn Cycling als Pacecar benutzt), fragt mit der Tankwart, ob ich auch mitfahre und das zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht. Ich beginne, die Faszination RAA, die in St. Georgen allgegenwärtig ist, zu verstehen.

Ich checke im Hotel Attergauhof ein, frage, ob ich mein Fahrrad mit aufs Zimmer nehmen kann. Die Antwort darauf lautet „Selbstverständlich!“ und auch der restliche Aufenthalt ist von Gastfreundschaft geprägt. Vielen, vielen Dank ans Team vom Hotel, ihr seid großartig!

Es ist Mittag, ich bin hungrig, und Martin Granadia / 169k ist auch schon da. Er ist ein Experte fürs RAA, hat die letzten Jahre fotografisch dokumentiert und startet so wie ich auch in der Unsupported-Kategorie. Wir haben uns über die letzten Wochen und Monate ausgetauscht, er hat mir viele Tipps und viele Einsichten gegeben und ich hab ihm, naja, eigentlich nichts zurückgegeben. Und auch jetzt nutze ich ihn schamlos als Guide aus. Schließlich haben wir jetzt noch bissl über 24 Stunden zum Start, also ungefähr auch die Zeit, die wir nachher am Fahrrad verbringen werden. Ziemlich viel Zeit, um sich wahnsinnig machen zu lassen. Habe ich alles mit? Habe ich zu viel mit? Zu wenig? Habe ich genug zu essen mit? All diese Fragen müssen in der Unsupported-Kategorie im Vorfeld beantwortet werden, schließlich kann man während der Fahrt vor allem in der Nacht nicht einfach mal eine Wasserflasche aus dem Helm zaubern. Essen als Ablenkung hilft, auch der Austausch mit Nora und ihrem Team lenkt ab, aber eigentlich kann ich es nicht mehr erwarten, ich möchte starten, und zwar am liebsten sofort.

Noch ein Mal schlafen…

Am Mittwoch, also an dem Tag, an dem ich um 15.29 Uhr ins Rennen gehe, wache ich nach einer relativ kurzen Nacht (die Nerven haben schlafen nur bedingt zugelassen) auf und erledige als erstes die technische Abgabe meines Fahrrads. Das schaut mittlerweile aus wie eine Mischung aus Packesel und Weihnachtsbaum, überall Reflektoren, überall Lichter, viel Stauraum für Essen und Bekleidung. Und der fette Auflieger vorne. In der Unsupported-Kategorie kann ich den Organisatoren noch eine Box mitgeben, die in Steyr deponiert wird. Ich habe in der Box Kontaktlinsen und Riegel und einen frischen Baselayer und solche Sachen. PuristInnen sagen, dass ich durch diese Box nicht mehr Unsupported bin, aber ok.

Noras Start und die Bühne

1 Stunde vor Start mache ich mich schließlich fertig. Der Plan war, den „wärmeren“ Baselayer anzuziehen, damit mir dann in der Nacht nicht kalt wird, nachdem es aber über 30 Grad hat, wird der Baselayer zunächst doch einfach am Fahrrad verstaut, eine Entscheidung, die ich nicht bereuen werde. Ich rolle zum Start und bin unfassbar nervös. Ich sehe Nora, schlage nochmal mit ihr ab und wünsche ihr alles Gute, sie geht ein paar Minuten vor mir ins Ziel. Ums Eck von der Startrampe, die mir schon seit Tagen fiese Gedanken macht (klar, ich fahr mim Crosser irgendwelche obszönen Dinge im Gelände, aber jetzt scheiß ich mir vor der Rampe an, normal…) sammeln sich die Unsupported-Startenden. Manche schauen ähnlich aus wie ich vom Gepäck her, andere schauen aus, als würden sie gleich eine 90-minütige Trainingseinheit absolvieren. Der Unterschied bei der Equipmentwahl ist riesig und beruhigt die Nerven nicht wirklich. Wer ist hier der Wahnsinnige, ich, oder alle anderen? Aber ich bekomme alles nur noch sehr betäubt mit, der Puls ist weit außerhalb des Ruhebereichs, ich will, will, will, will endlich starten.

Schließlich rollen wir zur Rampe, das Startintervall beträgt eine Minute. Martin ist genau vor mir dran, ich wünsche ihm noch alles Gute, er startet, schafft die Rampe, dann weiß ich: Die schaff ich auch. Ich gebe das Startinterview, werde nach meinen Zielen gefragt („Durchkommen. 1, 2 Stunden Spaß haben. So viel wie möglich genießen.“), erwische den Moderator am Schmäh, man wird mir nachher sagen, dass ich das Interview gut gemacht habe, ich bekomme das alles nicht mit. Und dann fällt der Startschuß. Und ich rolle. Die Rampe runter. Durch St. Georgen im Attergau, raus aus dem Ort. Und die Nervösität ist weg. Auf einmal ist alles ganz einfach. Der Wahoo gibt die Route vor, das linke Beine tritt nach unten, dann das rechte, das linke, das rechte, das wiederhole ich jetzt einfach ein paar Tausend Mal und dann bin ich bald wieder da.

Oh well.

Vor den ersten Kilometern hat man mich gewarnt. Es gibt ein paar schmierige Anstiege, man muss den eigenen Rhythmus finden, irgendwann kommen Pacecars, alles ein bisschen chaotisch. Aber das große Chaos bleibt bei mir zumindest aus, in der ersten Stunde überholt mich das gesamte Unsupported-Feld, aber ich lasse mich davon nur einmal aus dem Konzept bringen, als ich mit 38 km/h durch die Ebene knalle (für meine Begriffe) und recht locker überholt werde. Dass ich hier meinen eigenen Bewerb fahre, dass ich mich nicht mit den anderen messen kann, das war mir klar, in dem Moment tuts aber weh.

Einer der ersten Schupfer

Der Beginn ist auch aus anderer Sicht schwierig: Es geht die ganze Zeit auf und ab, die ersten 40, 50 Kilometer sind sehr unrhythmisch, man kommt öfter auch noch in den Abendverkehr und das fordert einiges an Konzentration. Ich freu mich auf den Sonnenuntergang und ich freu mich auf den ersten Stopp bei einem Spar. Nur leider hat er um 18.00 Uhr zugesperrt. Und es ist 18.50 Uhr. Hallo Oberösterreich, du bist hier nicht in Wien!

Durchschnaufen

Nach ca. 80 Kilometer trotzdem der erste Stopp, die Sonne ist noch da, die 4 Wasserflaschen sind leer und ich finde eine Tankstelle, in der ich auffülle. Ich gebe auf Instagram ein kurzes Videostatement ab, überraschenderweise gibt es sehr viele Leute, die mir virtuell Zuspruch schicken und an meinem Schicksal interessiert sind, danke an dieser Stelle dafür. Wenn ich mir jetzt das Video anschaue, hätte ich wahrscheinlich früher erkennen können, dass etwas nicht ganz stimmt. In der Starteuphorie dürfte ich für meine Verhältnisse zu schnell unterwegs gewesen sein, habe nicht mitbekomme, wie heiß es ist und dass ich meine Vorräte schon früh in einen kritischen Bereich bringe, sowohl die Vorräte am Rad, als auch meine körperlichen. Aber zu diesem Zeitpunkt bin ich noch guter Dinge und ich muss auch jetzt sagen: Es macht Spaß.

Ich erlebe Richtung Schärding einen schönen Sonnenuntergang, kann die Landschaft genießen, der Verkehr macht mir wenig zu schaffen und auch die Überholenden sind mir mittlerweile egal. Immerhin werde ich von jeder einzelnen Person angefeuert und jede einzelne Pacecar-Besatzung fragt, ob ich was brauch. Das ist sehr nett. Knapp nach Schärding und einem relativ ungutem Anstieg treffe ich Sylvia, eine liebe Freundin, die mir eine Banane und Wasser gibt (hey, ich bin eh nicht im Ziel angekommen…). Wir plaudern kurz, sie kommt aus der Gegend, sie wünscht mir alles Gute und bietet an, dass sie mich jederzeit abholen kann, wenn irgendwas passieren sollte. Ich denke mir zu diesem Zeitpunkt „Danke, das wird nicht notwendig sein“ und fahre weiter.

Irgendwann komme ich mit Schwung bei der Donau an, manche Abfahrten sind sehr zügig und vor allem im Dunklen durchaus eine Herausforderung, bis ich irgendwann draufkomme, meine Lupine Blika aus dem Stromsparmodus zu wecken und mal in den echten Modus zu schalten. Die Sonne geht wieder auf und von da an sind die Abfahrten auf einmal gar nicht mehr so eine Herausforderung. Ich bin halt auch ein Trottel.

Die Donau entlang gehts dahin, ich sehe sehr vermeidbare Überholmanöver von Pacecars untereinander, das Tempo, mein Tempo ist hoch und ich frag mich, wie schön die Donau ausschauen würde, wenns jetzt Tag wäre. Aber ich bin ja eigentlich nicht wegen der Aussicht hier, liege am Auflieger und sehe sowieso nur Straße. Doch dann auf einmal liegt jemand am Boden, eine Dame, ich sehe, sie wird von ihrem Team betreut, weiß nicht, ob Sturz oder Pause oder was anderes. Helfen kann ich ihr nicht, es sieht nicht nach Notsituation aus, ich fahre weiter, bleibe aber im Gedanken hängen. Es kann halt schon auch was passieren.

Nach ca. 160 Kilometer überquere ich zum ersten Mal die Donau, und mache eine Sitzpause an einem Platz, wo auch andere Leute pausieren. Ich habe Kontakt mit ein paar Leuten, unter anderem Norbert, der meint, dass alles gut ist, dass jetzt endlich der erste Anstieg kommt. Ich frag ihn, ob er deppert ist, ich bin ja schon ur viel raufgfahren, aber er hat recht: Der erste Anstieg liegt noch vor mir. Und wird so richtig, richtig grindig.

Vor ca. 20 Kilometern hatte ich nämlich kurz einen Wadenkrampf. Den hab ich wegdrückt, ignoriert, ihn als Fehler im System wahrgenommen. Da hat sich einfach jemand erschreckt.

Aber es war kein Fehler im System, es war ein Warnzeichen. Das ich formidabelst ignoriert habe. Weil während ich die ersten Meter noch relativ locker den Anstieg fahre (ich habe dank 34/34-Übersetzung ja Reserven am Rad), beginnt sich etwas anzubahnen, mit dem ich so früh nicht gerechnet habe: Die Muskulatur beginnt zu krampfen. Zunächst zögerlich, so, dass ich sie noch wegkurbeln kann, durch Drücken oder Ziehen wegbekomme. Mal bissl im Wiegetritt, mal schwerer Gang, komm schon, das geht schon, das ist kein Problem. Aber es ist ein Problem und das Problem wird mit Kilometer zu Kilometer schlimmer. Fuck. Den letzten Schupfer gehe ich schließlich, versuche, im Gehen ein wenig zu dehnen. Es gelingt und ich schwinge, naja, hebe mich wieder aufs Rad. Es folgen ein paar unspektakuläre Kilometer, in denen mir aus dem Nichts heraus die Angst einschießt, dass ich von irgendeinem Wahnsinnigen zusammengeführt werden könnte. Knapp eine halbe Stunde kämpfe ich mit dieser Angst und mache einen Stopp. Ich habe ofensichtlich Hunger, der Körper braucht was, was ich ihm nicht gegeben habe und jetzt beginnt der Kopf zu spinnen. Ein Ensure (das „Geheimmittel“ von Christoph Strasser, dem besten Weitradelfahrer der Welt) wirds richten, bissl isotonische Getränke, das verschafft auch den Beinen wieder Luft und dann gehts wieder weiter.

Ich habe mittlerweile ca. 180 Kilometer in den Beinen, ca. 1600 Höhenmeter und natürlich werden die Stimmen im Kopf lauter, die fragen, ob ich hier richtig bin, ob das mit der Weiterfahrt noch Sinn macht. Da ich bis auf die Krämpfe aber sonst keine körperlichen Probleme habe (die Fussschmerzen, die ich plötzlich am Anfang der Fahrt hatte, sind wieder weg) kann ich diese Stimmen abwürgen, ich habe gewusst, dass das hier keine Spazierfahrt wird. Und es geht weiter.

Mit Betonung auf gehen.

Denn sobald ich auch nur ein wenig mehr als 4, 5 Prozent Steigung zu bewältigen habe, melden sich wieder die Beine. „Hör auf! Wir geben dir nichts mehr!“. Die frischen Pedalplatten werden geschunden, ich schiebe und schiebe und schiebe und schiebe und sehne mich nach jedem freien Meter, den ich rollen oder zumindest im Flachen treten kann. Aber ich bin ab jetzt nicht mehr Teil des Wettbewerbs, das hier wird schnell zum Rückzugsgefecht und die Munition ist aus. Ich rechne mir aus, wies mit der Karenzzeit aussieht, ob ich noch eine Chance habe, innerhalb der Zeit im Ziel anzukommen, aber mir wird schnell klar: Es geht jetzt nicht um die Zielankunft. Es geht jetzt um jeden fucking Kilometer.

Seltenes Racefeeling

Vor dem RAA habe ich meiner Frau zwei Dinge versprochen. 1: Wenn ich das Gefühl habe, dass ich meine Gesundheit riskiere, dann mache ich eine Pause oder höre auf. Als ich ihr das versprochen habe, dachte ich an Hitze, vor der ich die größte Sorge hatte, mein Biopren macht es mir bei hohen Temperaturen schwer, abzukühlen. Versprechen Nummer 2 betrifft Abfahrten, die ich normalerweise schnell absolviere, ich habe ihr versprochen, es diesmal sachte angehen zu lassen. Der Blick auf eine Maximalgeschwindigkeit von über 80 km/h zeigt, dass ich dieses Versprechen womöglich ein, zwei Mal etwas ausgedehnt habe (sorry dafür), Versprechen Nummer 1 muss ich allerdings einhalten.

Ich sehne mich seit Stunden nach einer Sitzpause, vielleicht mit Schlaf, finde keine Gelegenheit, komme nicht mehr auf Touren. Und mitten in der Nacht auf Landstraßen spazieren gehen, das ist egal mit wieviel Licht und Reflektoren am Rad nicht gesund. Als ich an einer Weggabelung steht, wo es links weiter Richtung Haslach und der RAA-Strecke geht und nach rechts Richtung Rohrbach und der vermeintlichen Erlösung, setze ich mich an eine Bushaltestelle. Und sitze. Und sitze. Und stehe auf, weil ein weiterer Krampf zuschlägt. Ich stackse herum, versuche, den Krampf zu lösen. Und schließlich zücke ich mein Telefon und rufe die Rennleitung an.

„Hallo. Hier ist Startnummer U-22, Michael Knoll. Ich gebe mein Rennen auf.“ – „Uje. Was ist passiert?“ – „Passiert? Nix. Ich kann nicht mehr.“ – „Magst nicht noch eine Pause machen, vielleicht bissl schlafen?“ – „Du, danke. Es geht nichts mehr.“ – „Ok. Wir nehmen dich aus dem Rennen. Weißt, wie du zum Ziel kommst?“ – „Gibts einen Besenwagen, jemanden, der mich aufsammeln kann?“ – „Leider nein.“ – „Ok. Danke trotzdem!“ – „Pass auf dich auf!“

Oh well.

Die Entscheidung ist getroffen. Es ist 3.21 Uhr und ich bin den Tränen nahe, naja, stimmt nicht, ich beginne zu heulen. Ein paar Sekunden brauche ich, um mich zu sammeln, um mich auch auf die nächste Aufgabe zu konzentrieren: Wie zur Hölle komm ich von hier weg?

Das Rennen ist zu Ende, das Abenteuer beginnt.

Sekunden nach dem Anruf bei der Rennleitung

Natürlich könnte ich Sylvia anrufen, aber das bringe ich mitten in den Nacht nicht übers Herz. Ich suche mir Zugverbindungen raus, bei Haslach gibts eh auch einen Bahnhof, also los.

Der Bahnhof wirkt zwar, als wäre er irgendwann in den 60ern aufgelassen worden, aber es gibt ein Schild und das Licht im Wartezimmer geht an, als ich die Tür aufmache, die von einer fetten Kreuzspinne bewacht wird. Ich habe Angst vor Spinnen. Im Warteraum hängt auch ein Fahrplan, der bestätigt, was die ÖBB-Website sagt, nämlich, dass da um 5.35 Uhr ein Zug nach Linz fährt. Es ist knapp 4.00 Uhr, ich versuche, mich irgendwie zu arrangieren, um ein wenig zu schlafen, aber auch hier sind die Krämpfe erbarmunglos. Hätte ich gefilmt, wie ich mich am Bahnhof verrenke, um kurzfristige Erlösung zu finden, es wäre sicher ein viraler Hit geworden. Aber das vergönn ich euch nicht, ha!

Irgendwann gehen andere Lichter an, Menschen kommen, der Zug kommt, ich fahre nach Linz, ich fahre über Attnang-Puchheim nach Vöcklamarkt („Sie wissen scho, dass Sie nur die Hälfte zahlen, wenn Sie vorher einen Platz für Ihr Rad reservieren?“ – „Danke, ja, es war nicht so geplant.“ – „Na, ich sags Ihnen nur.“) und von Vöcklamarkt fahre ich nochmal mit dem Rad nach St. Georgen. Knappe 9 Kilometer, 100 Meter rauf, 95 Meter runter oder so ähnlich.

Und diese Radfahrt ist wichtig, denn natürlich beschäftigt mich die Frage, ob ich zu früh aufgegeben habe. Wäre noch etwas gegangen? Wars keine gute Idee, mich mit dem Podcast von Christoph Strasser einzustimmen, in dem er über das Race Across America 2015 redet, das er abbrechen hat müssen? War es die Birne und nicht die Beine, die mich scheitern haben lassen (denn als scheitern nehme ich es selbstverständlich wahr in dem Moment)?

Aber die Fahrt nach St. Georgen beantwortet zumindest diese Frage. Nein, ich habe nicht zu früh aufgegeben. Selbst 6 Stunden nach der Aufgabe und somit nach einiger Zeit an Regeneration habe ich überhaupt gar keinen Zugriff mehr auf Leistung. Ich quäle mich mit Minimalsttempo die kleinen Schupfer hoch, mit hohen Puls und schnaufend rolle ich, was es zu rollen gibt, aber ich komme irgendwann im Hotel. Und werde herzlichst empfangen, weil natürlich wissen sie hier, was es bedeutet, wenn ich um diese Uhrzeit auf der Mattn stehe. „Soll ma Ihnen was aufs Zimmer bringen?“ Ich winke ab, bedanke mich, bin entzückt von dieser Freundlichkeit. Ich verschwinde im Zimmer, dusche und versuche, zu schlafen. Es wird mir ähnlich wie vor dem Rennen nur bedingt gelingen. Ich schaue auf den Live-Stream, beteilige mich jetzt selbst am sogenannten Dot-Watching (jede Startnummer wird als sich bewegender Punkt auf der Landkarte angezeigt), feuere Nora und Martin an, so wie ich von so vielen angefeuert wurde, wünsche allen anderen, dass sie durchkommen. Sehe, dass ich nicht der Erste (und auch nicht der Letzte) mit einem DNF bin (Did not finish), aber finde in dieser Information freilich keinen Trost.

Noras Finish

Stunden später schließlich verpasse ich Martins Zieleinfahrt (sorry!), ich sehe andere im Ziel ankommen, ich hole Nora von der Ortstafel St. Georgen ab (dort endet die Zeitnehmung) und rolle mit ihr Richtung Ziellinie, ich gratuliere, aber kann das alles leider nicht genießen. Noras Pacecar, den Starbike-Bus, mache ich so flott wie möglich fertig, um nach Wien zu fahren. Aus einer Party, auf die ich mich gefreut habe, wird eine Flucht, aber wie ich später heraufinde, wäre es keine große Party gewesen: Wenn man die Challenge schafft, geht man im Anschluss schlafen, und das ist gut so.

Was bleibt?

Vorher – Nachher

So einiges.

Erstens: Das RAA ist ein Wahnsinn. Die Organisation, die Stimmung, die Leute. Dieses Event ist phänomenal, die kleinen Endorphinausschüttungen, wenn mitten in der Nacht mitten im Irgendwo auf einmal 15 Leute stehen und trommeln und anfeuern, das ist phänomenal. Das macht süchtig.

Zweitens: Das RAA ist nicht Tischtennisspielen im Prater, das ist ein echter, harter Wettbewerb. Die Challenge ist lang, und anstrengend und definitiv nichts, was man „im Vorbeigehen“ schafft, jede einzelne Person, wurscht, ob Solo, Unsupported oder im Team, die im Ziel ankommt, hat Bewunderung verdient. Die Strecke ist mehr als zach und das ist wirklich kein Honiglecken.

Drittens: Mein Trainingspensum reicht nicht aus, um mich dieser Challenge erfolgreich zu stellen. Knapp über 3000 Kilometer standen vor dem Start auf dem Jahrestacho, das ist viel zu wenig. Und gleichzeitig bin ich zu schwer, jeder Höhenmeter tut da doppelt weh. Ich kann mit meiner Fitness einen Radmarathon abspulen, aber das hier ist eine andere Liga.

Viertens: Ich werds nochmal probieren. Ich weiß noch nicht, unter welchen Umständen, ob solo oder im Team, aber ich möchte es nochmal erleben und ich möchte es schaffen. Oder zumindest später scheitern.

Fünftens: Ich weiß aber jetzt auch, was ich dafür tun müsste, um es nochmal solo anzugehen. Ich müsste viel mehr Zeit am Rad verbringe, viel mehr fahren und ich weiß nicht, ob ich bereit bin, das zu tun. Denn mein Lebensmittelpunkt würde sich noch mehr in Richtung Rennrad verschieben, man muss einfach viel Zeit auf der Straße verbringen, um allein um Oberösterreich herumzufahren. Das ist auch eine Entscheidung, die ich nicht allein treffen werde und vielleicht ist es auch ok für mich, die Challenge doch im Team anzugehen und die Freude am Fahrradfahren nicht zu vergessen. Denn dieses Trainingspensum, das notwendig ist, das ist ganz sicher nicht nur Spaß.

Hello beauty, lange nicht mehr nackt gesehen.

Sechstens: Das Equipment passt, mein Orbea Avant hat perfekt funktioniert, ich habe es sehr wahrscheinlich zu schwer bepackt und mir dadurch das Leben nicht leichter gemacht, aber ich war so weit weg von der Form, in der ich hätte sein müssen, dass das Equipment in dem Fall keine Rolle gespielt hat. Wenn jemand Detailfragen hat, sehr gerne einfach fragen, am besten via Instagram auf @starbike_wien oder @cycloklops.

Siebstens: Ich habe nicht nur die Challenge unterschätzt, sondern auch euer aller Interesse und euren Zuspruch. Schon im Vorfeld hat mir das unglaublich viel Energie gegeben und auch die Gedanken an euch haben mich im Rennen sicher noch ein paar Kilometer weiter gebracht, als wenn ich komplett allein gewesen wäre. Das ist nicht selbstverständlich, danke, danke, danke dafür!

Wie es Brigitte Stocker aka Bearrides, fantastische Radfahrerin und Trainerin, via Instagram an mich gerichtet hat: Es wäre auch keine richtige Challenge, wenn es nicht auch die Möglichkeit des Scheiterns gäbe. Und das sind eigentlich die perfekten Schlussworte für das RAA, mein RAA 2020.

Die erste Trainingsfahrt für 2021 ist bereits absolviert…

Comments 4

  1. Wie auch immer, du warst grossartig, auch wenn du aufgeben hast müssen.

    Scheitern kann nur der, der etwas wagt.

  2. lieber cycloklops,

    schon an den tagen vor dem start der challenge habe ich dein vorhaben verfolgt. am tag des RAA starts selbst mit dir mitgefiebert. beim servicetermin bei euch im shop habe ich mit martin, damjan und anderen radverrückten deinen und andere punkte am bildschirm gesucht. sogar vorm zu bett gehen bin ich extra nochmal am tablet auf die raa-seite um zu schauen wo du unterwegs bist.

    kurz nach (meiner) erholsamen nacht dein insta-post des renn-endes. es hat mir echt weh getan und – auch wenn wir uns nur von meinen spärlichen besuchen bei starbike kennen – ich hätte dich gerne gedrückt ;-).

    jetzt diesen bericht hier zu lesen war großartig, genial, rührend, beruhigend aber auch sehr motivierend.

    DANKE

  3. Lieber Michi,
    sorry, das es Dir nicht gut ergangen ist – aber jedes Scheitern bringt Erfahrung und was soll ich DIr raten: bleib dran. Such Dir jemanden, der Dir gute Traininngspläne schreibt und leider MUSST DU mehr Kilometer machen vorher – ohne dem geht´s einfach ned. (hab 2019 dank Trainingsplan den Ötzi entspannt absolviert)
    Ich weiß auch nicht in wie weit DU bereit bist, Gewicht zu reduzieren. Mir hat die Variante 16/8 seit 2018 gut geholfen (und auch gepasst vom zeitlichen Ablauf her). Natürlich red ich mich leicht, bei mir waren es ja nur ein paar Kilos
    Aber indem Du Dein Systemgewicht reduzieren kannst, wirst automatisch Deine Chancen steigen lassen, diese CHallenge zu meistern. Ich möchte 2021 auch die Unsupported Challenge machen und bin um jeden Erfahrungsbericht froh, den ich lesen kann. Danke für Deinen Bericht und trotzdem Gratulation für die erbrachte Leistung bis zum Abbruch.
    Alles Gute weiterhin und bleib am Rad !!
    LG
    Michi P.

  4. Hallo Michael – mitreissender und auch sehr menschlicher Bericht – man merkt du hattest nicht nur Leiden sondern auch Leidenschaft – denke du hast noch eine Sache zu erledigen – Möglichkeiten gibt es dazu ja genug ( im Team oder solo )

    Alles gute und verlier nicht deine Leidenschaft
    Grüße Karl

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert